Über Maryanne Amacher in der daadgalerie, Berlin
(erschienen in: TEXTE ZUR KUNST 22 (2012), H. 87: Conflict, S. 188-191)
Ein Sirren, Rauschen, tiefes Brummen, ein Schnarren. Es beginnt, nimmt im Verlauf noch zu, überwältigt mein Ohr mehr als gedacht, hallt nach in mir. Keine Musik im Sinne der Vormoderne ist hier zu hören, stattdessen Resonanzen von Bauten und Gebäudekomplexen, ihrer Infrastruktur, sozialer Wanderungsbewegungen, des Urbanismus insgesamt – vermittelt durch aufgezeichnete Vibrationen, Interferenzen und Nachhall im Werk von Maryanne Amacher. In diesem Sommer konnten zwei maßgebliche Werkgruppen dieser bedeutenden Klangkünstlerin, „City-Links“ (1967-88) und „Intelligent Life“ (1981-2009), in der Berliner daadgalerie erkundet werden. Eine Ausstellung, kuratiert von Axel John Wieder, die eine Annäherung an das Werk als gesamtes versuchte; eine Annäherung, die allerdings bei der radikalen Situationsspezifik und progressiven Konzeption im Werk von Amacher nur provisorisch, andeutend, kriminalistisch ausfallen konnte.
Über fast dreißig Jahre hinweg, von 1967 bis zu ihrem Tod 2009, arbeitete Maryanne Amacher an etwa zwei Dutzend auditiven Installationen in verschiedenen Gebäuden: in Studiokomplexen, Hafenanlagen, Fischmärkten, in Büros von Versicherungen. Die Bauten selbst – verlassene wie genutzte -, die sie umgebenden Stadtteile, ihre historische und politische Entwicklung sowie ihre sozialen und technologischen Markierungen gingen dabei in die Installationen im Rahmen der Vorrecherche, der Aufnahmesituation und der Mikrophonierung und Nachbearbeitung ein. In diesen „City-Links“ genannten Arbeiten führte Amacher die Klänge verschiedener Orte zusammen – meist über die analogen Telefonverbindungen jener Jahre, die das akustische Material zusätzlich verfremdeten – und mischte sie ab zu radiophonen Livesendungen, die bis zu 28 Stunden dauern konnten. Raumzeitübergreifend kamen darin entweder verschiedene Orte einer Stadt (wie etwa Buffalo) oder verschiedene Städte mit vergleichbaren Orten (wie New York City, Boston oder Paris) zusammen. Was aus Sicht der täglichen Raumzeitsprünge digitaler Netzwerke heute einigermaßen gewöhnlich scheinen mag, war in jenen Jahren beginnender Medienkünste noch künstlerischer Kampfplatz und Politikum, da eine Form kaum legitimierter, technologischer Ermächtigung. Diesen Ansatz einer auditiven Raumzeitbrücke führten einige Zeit später u.a. Bill Fontana („Entfernte Züge“, 1984) oder Georg Klein („TRASA warsawa-berlin“, 2004/2006) in vielbeachteten Inszenierungen fort. Amachers Ansatz aber umfasst weit mehr als diesen medienkünstlerischen Eros apparatischer Raumbeherrschung.
Ihre ästhetische Theorie und künstlerische Praxis berührte früh, in den 1960er Jahren bereits, das Feld der auditiven Gestaltung von Architektur als „aural architecture“1: ein Feld der auditiven Gestaltung des Stadtraums, das seit etwa einem Jahrzehnt nicht mehr nur Klangkünstlerinnen und Klangkünstler ganz fundamental beschäftigt, sondern tatsächlich auch Stadtplanerinnen und Architekten dazu bringt, die spezifischen Klänge eines Ortes zu berücksichtigen und mitzugestalten. Amachers klangliche Arbeit begann dabei allerdings nicht mit feststehenden musikalischen Strukturen und klanglichen Fundstücken; in verschiedenen Interviews und Publikationen bezeichnete die Künstlerin ihre Arbeit als „Sonic Choreography“: Das bedeutet, sie ging weit über das bloße Aufnehmen, Bearbeiten und Schneiden hinaus, Prozesse, die mittlerweile zur trivialsten Laptop-Producer-Praxis gehören; vielmehr gewann sie die Formanten, Strukturelemente, ja sogar die Maßgaben räumlicher Klangausbreitung und -filterung aus der jeweiligen Materialität der Orte, deren Mauerwerke und Hallräume, resonierenden Hölzer oder abschlagenden Glasfronten, den sirrenden Stromkabeln in allen oder nur wenigen Wänden, den Türdurchbrüchen oder den schallschluckend schließenden Gummierungen in Fenstern und Türstöcken. Die von ihr ausgewählten Schauplätze wurden zunächst auf ihre charakteristischen Resonanzen, Abdämpfungen, Halleffekte und ihre ephemeren Klänge hin untersucht: Dafür benutzte sie technische Apparaturen ebenso wie die originären Messinstrument des menschlichen Hörens und Schallempfindens. In diesen Resonanzen, so ihre Annahme, sollte Urbanität hörbar werden, sollten sich musikalische Strukturen ergeben; aus Hörstudien und umfangreichen Aufnahmen entwickelte sie teils über lange Zeit hinweg ihre Stücke, teils aber auch improvisatorisch.
Die physische Charakteristik eines Ortes wurde von Amacher somit einerseits aufgezeichnet; andererseits wurden dessen abstrakte und rhythmische Merkmale genutzt, um kompositorische Strukturen hieraus abzuleiten. Ihre „Sonic Choreography“ inszenierte sie derart konkret, dass sie die kulturell geprägten Klänge, die in den Sound Studies als das Sonische bezeichnet werden, zu einer zeitlich und räumlich, tänzerisch sich ausbreitenden Bewegung im gegebenen Gebäude neu choreographierte. Die schiere Beschaffenheit und Architektur der gewählten Gebäude war – im allerphysikalischsten Sinne – somit Amachers kompositorisches Material, das ihr Zeit- wie Raumstruktur vorgab.
Klangkünstlerische Arbeiten von Mark Bain, Sam Auinger oder Christina Kubisch entwickelten später dieses Hören von Architekturen und ihren elektroakustischen Infrastrukturen weiter, vom konkreten Aufzeichnen der Eigenresonanz einzelner Bauten (Bain), hin zu musikästhetisch komplexen soundscape- und objet sonore-artigen Hörstücken und Installationen (Auinger), bis zu Stücken mit Kopfhörern, die elektromagnetische Wellen des Alltags auffangen (Kubisch). Amachers Einfluss auf Ästhetik und künstlerische Praxis dieser und vieler anderer Klangkünstlerinnen und -künstler kann darum kaum hoch genug geschätzt werden: sie ist eine artist’s artist. Amacher entwickelte Arbeitsstrategien, ästhetische Konzepte und Annäherungen an Klang, Stadtraum, Architektur und Radioraum, die nach wie vor prägend sind – sie selbst jedoch konnte sie kaum in handliche Werke überführen, die sich auf dem Kunstmarkt bewerben, streitbar theoretisieren und verkaufen ließen. Ihre Werke blieben jeweils ganz am Ort der jeweiligen Klänge, an den Produktionsstätten und in den intendierten Hörsituationen, ja sogar in den Ohren der Hörerinnen und Hörer, mit deren psychoakustischen Effekte sie ebenfalls musizierte. Ihr Werk umfasst eine Situationskunst, die von eben der Hörerfahrung und der Schallausbreitung im gegebenen Raum (nicht: aus Kopfhörerlautsprechern; nicht: aus Wohnzimmerlautsprechern) sowie den anwesenden Menschen kaum loszulösen ist.
Ortsspezifik wird hier zur physikalischen und physiologischen Konkretion, die sich nicht ausstellen, sondern am ehesten wiederaufführen oder neuinszenieren ließe, weshalb sich von auditiver Konzeptkunst sprechen lässt. Nur zwei Tonträger, mit kürzeren, auch musikalisch, ortsungebunden genießbaren Auszügen ausgewählter Arbeiten sind darum erhältlich – bezeichnenderweise auf John Zorns Künstlerlabel Tzadik.
Amachers Ansatz des situativen Hörens gipfelte schließlich in der Idee eines futurisch imaginierten, künstlerisch-wissenschaftlichen Labors, dem sie den Namen „Supreme Connections Inc.“ gab. Darin sollten höhere Verbindungen geschlossen werden zwischen den Sinnen und den Lokalitäten, den Zeiten und den Bewegungen, den Materialien und den Menschen: ein Labor, das nicht akustische Produktionstechnologien perfektioniert, sondern auditive Wahrnehmungspraktiken von Menschen trainieren und verfeinern hilft. Ein Klanglabor, das nicht – wie heute üblich – nur Apparaturen, Soft- und Hardware, in Aufzeichnungs-, Bearbeitungs- und Wiedergabemaschinerien versammelt hätte. Denn „Supreme Connections“ bestehen nach Amacher in den Menschen und den Orten und Situationen, an denen sie hören. Was wie esoterische Binse klingen könnte, ist allerdings materialistisch, situationistisch sowie ganz radikal instantan und sensorisch gemeint.
Eben diese „connections“ und wie sie herzustellen wären, müssten als das eigentliche Herz der Ausstellung in der daadgelaerie angesehen werden, das jedoch den meisten Besucherinnen und Besuchern nicht zugänglich wurde: Auf einem großen Tisch waren maschinengeschriebene Konzeptpapiere sowie Programmhefte, Partituren und Skizzen Amachers zu studieren, während auf den Monitoren darauf und nebenhin Videodokumentationen zu sehen waren und im hinteren Raum einige CD-Player standen, auf denen einzelne Stücke angehört werden konnten. Auch wenn damit ein umfangreiches Konvolut von selten zu sehenden Dokumenten ausgebreitet wurde, lässt sich die generative Subtilität von Amachers Werk auch bei ausgiebiger Lektüre nur bedingt erfahren. Am ehesten konnte deshalb ein begleitender Workshop den Ansatz der Künstlerin nahebringen, da er im Sinne ihrer hochsituativen Ästhetik durchgeführt wurde. Dieser Workshop, der die Arbeitsweisen des Aufnehmens, der Ortsanalyse und der musikalischen Strukturbildung Amachers vermittelte, sollte ausgewählten Teilnehmerinnen und Teilnehmern einen besonderen Zugang zu den zuvor aufgezählten Praktiken der Sonic Choreography und den Arbeitsweisen im Stile der Supreme Connections bieten – im Zuge ihrer jeweils eigenen künstlerischen Praxis. Ausgehend von dieser Ausstellung, so ist darum zu vermuten und zu hoffen, können nun erst weitere, umfassendere und konkrete Rekreationen und Neufassung die Arbeiten von Amacher auch über ihren Tod hinaus lebendig halten.