In diesem Moment sitze ich in einer Wohnung im Osten Berlins. Gegen sechs Uhr morgens waren wir von Polizeihubschraubern geweckt worden, die eine Hausdurchsuchung in einer Parallelstraße flankierten; beim Frühstück mit unseren Kindern lief das lokale Indiepop-Radio. Auf dem Weg zum Kindergarten ertönten Alarmhörner vor dem Schließen der U-Bahntüren sowie ein stechend hoher Bestätigungston samt Ansagestimme in allen Aufzügen. Um uns herum, leiser in den Seitenstraßen, rauschte der Strom des Individualverkehrs vorbei, ein Verbrennungsmotor hinter dem anderen. Der Wind flatterte an unseren Ohren und Kleidern. Die Benachrichtigungstöne an meinem Mobiltelefon hatte ich ausgestellt. Wenn wir heute Klänge hören, in unserer Wohnung, am Arbeitsplatz, auf der Straße, in Verkehrsmitteln, so wird die Mehrzahl dieser Klänge elektronisch erzeugt oder technisch übertragen. Es sind medientechnisch umgewandelte, es sind mediatisierte Klänge und Geräusche, die unser Ohr und unseren Körper erreichen. Die technischen Gerätschaften und die Handgriffe, mit denen wir sie bedienen, sowie die Haltungen, in denen wir diese Klänge heute hören und interpretieren, all das entwickelte sich erst in den letzten Jahrzehnten und Jahrhunderten aus einem Widerstreit der Interessen und der (Ab)Neigungen, der zwischen vielen gesellschaftlichen Akteuren ausgetragen wurde – aus Industrie, Forschung, aus Lärmschutzbürgerinitiativen, aus Subkulturen, aus den Künsten. Ein Konflikt, zuerst nicht um Ideen und Stimmungen, sondern um technische Innovationen, um die neuen Maschinenklänge auf öffentlichen Plätzen und Straßen sowie um intime und eigensinnige Klangwahrnehmungen von sound designs: ein Streit um die hörbare materielle Kultur einer Epoche. Die auditive Kultur unserer Gesellschaften wandelte sich im Laufe nur eines Jahrhunderts grundlegend. Wie konnte es den Forschern und Geldgebern jener Zeit gelingen, mit den Laboren der frühen Medienindustrie unsere Gesellschaften zu prägen und umzugestalten?
(Auszug eines Essay für den Merkur, Heft 779, April 2014; online frei zugänglich: Körper und Klang. Neuer Materialismus in der Kulturgeschichte)