Utopie in Klang

Über die Pophörspiele und Audioeditionen „Der Process“, „Im erwachten Garten“ und „Beattheater“

(erschienen in: TEXTE ZUR KUNST 21 (2011), H. 82: Artistic Research, S. 197-200)

In der letzten Dekade haben sich avancierte Hör- und Klangästhetik endgültig aus der engen Bindung an Avantgarde-Traditionen der bildenden Kunst und der Komposition gelöst und sich quer zu verschiedenen auditiven Genres, Medien und künstlerischen Praktiken entwickelt. Gegenwärtig können künstlerische Arbeiten im Sonischen – die weitaus mehr umfassen als das klassische Feld der Klangkunst im emphatischen Sinne zwischen Skulptur, Performance und Hörexperimenten – kaum Relevanz beanspruchen, wenn sie nicht auf Entwicklungen in angrenzenden, auch außerkünstlerischen Genres Bezug nehmen, seien es Hörspiel, Mainstream Pop oder Avantgardeelektronik, elektronische Tanzmusik oder Noise, Kompositionen der Neuen oder Echtzeitmusik.

Der ästhetizistische Minimalismus am Anfang der Klangkunst der 1970er Jahre etwa (mit ihren Heroen Julius, Leitner & Kubisch, Cage, Lucier & Neuhaus) ist bis heute als eine gesellschafts- und kunstkritische Position, mit der eine folgenreiche Öffnung auch der bildenden Künste einherging, wirksam. Die wechselseitige Entwicklung von Audiotechnologie und Hörweisen führte zu einer auditiven Ästhetik, die sich die Frage stellen muss, wie die systemsprengende Intensität künstlerischen Arbeitens mit Klang weiterhin spürbar bleiben kann – ohne Pionierarbeit zu verwerfen oder individuelle Hörweisen auf lediglich imposante Präsentationsformen zu reduzieren: die gelungene Nutzung neuester Audiotechnologie oder das intermodale Verknüpfen von Sinneswahrnehmungen allein ist noch kein ästhetisches Konzept. Auditive Ästhetik und sonische Künste stellen ihren eigenen Produktions- und Aufführungsort, die Bedingungen ihrer Wirkung, ihrer Generativität also, und ihren gesellschaftlichen Status zunehmend infrage: im besten Sinne einer politischen Institutionskritik, die in der bildenden Kunst ihren festen Platz seit langem hat.

Ein historisches Beispiel aus den 1960er Jahren findet sich in der Arbeit des Medienkünstlers Ferdinand Kriwet: Der Entwurf für ein Theater, das er Beattheater nannte, ein zehnteiliges, performatives Werk, dessen Struktur geprägt ist von Sprachkritik, antibürgerlichem Revolutionsbegehren und existenzialistischer Reflexion jener Zeit. Aus Anlass der ersten Werkschau Kriwets in der Düsseldorfer Kunsthalle erhielt der Musiker und Komponist Georg S. Huber alias Zeitblom kürzlich die Möglichkeit, das bislang unaufgeführte Beattheater radiophon zu inszenieren und etwas später eine Bühnenfassung im Düsseldorfer Schauspielhaus uraufzuführen. Mit dem Schauspieler Christian Wittmann und im Austausch mit Kriwet selbst nahm Huber eine Hörinszenierung dieses historischen Textes vor. Das Hörstück bindet dabei Kriwets manische Cut-Up-Ästhetik und Strukturalismen in der Tradition der Konkreten Kunst an Klassiker der gegenkulturellen Beatliteratur: Textauszüge von William S. Burroughs, Alan Ginsberg, Jack Kerouac bis hin zu Oswald Wiener oder Yoko Ono werden in die Struktur des Stückes eingepasst – ebenso wie O-Töne des jüngsten Medien- und Politikbetriebes. Gesellschaftskritik wird hier als Kern von Kriwets Arbeit erkennbar: »Wir sind der Diskurs der Anderen.«. Beattheater 2011 ist ein durch nicht-elektronische Beats, Bassläufe und ostinate Rufe geprägtes Pophörspiel: Eine frühe Passage ihres Stückes kontrastiert noch musiklos die biblisch erzählte Abstammungsfolge des Menschengeschlechtes seit Adam und Eva mit Wirtschaftsnachrichten des letzten Finanzcrashs in vielen Sprachen und bahnt dadurch einen Weg zu rhythmischen und klanglichen Strukturen und Aussage wie: »Weil die Ökonomie der Ausgangspunkt von allem ist.« Zum Zentrum des Stückes gerät dabei eine hysterische New Wave-Antihymne an alle Ismen: »Papismus, Maoismus, Autismus, Buddhismus, Populismus, Autonomismus, Dogmatismus, Islamismus, Dualismus, Analfetischismus, Sexismus, Kannibalismus, Zionismus, Fassadismus, Ethnopluralismus, Partikularismus, Journalismus, Rationalismus, Logozentrismus, Voyeurismus, Utilitarismus, Tourismus, Nihilismus, Deutschkatholizismus, Transzendentalpragmatismus…« Kulturgeschichte – die in Kriwets mit Anfang zwanzig geschriebenen Script ganz linear von Geburt und Wehen bis zur erlösenden Utopie im Tanz verlief – wird in dieser Inszenierung als Abstiegsgeschichte erzählt, die immer wieder zu Motiven aus Wieners radikaleskapistischem Bio-Adapter einerseits und zu Aufbruchsparolen der jüngsten Widerstandsschrift L’Insurrection Qui Vient zurückgeführt wird (vgl. Oswald Wiener: Die Verbesserung von Mitteleuropa. Roman, Rowohlt Verlag, 1969; Commitée Invisible: L’Insurrection Qui Vient, La Fabrique Paris, 2007 – dt.: Unsichtbares Komitee: Der kommende Aufstand. Deutsche Erstausgabe, Edition Nautilus, 2010). Zeitblom und Wittmann schaffen dadurch eine Beat-Cut-up-Kantate über ökonomische Strukturen, Macht und den großen, sehnsuchtsvollen Wunsch nach deren Auflösung und Zerschlagung. Die Euphorie der Gegenkultur ist dabei aber verschmutzt und ausgelatscht: »Das 21. Jahrhundert ist wie dreckige Stiefel.«

Diese dichte Neuinszenierung mit eindeutig politischer Ausrichtung steht damit im deutlichen Kontrast zu einer ganzen Reihe umfangreicher Hörbuchprojekte der letzten Jahre. lllias, Don Quijote, Moby Dick, Mann ohne Eigenschaften, Reise ans Ende der Nacht, Ästhetik des Widerstands, Die Serapions-Brüder – die Verhörspielung von Klassikern der Weltliteratur, speziell der Moderne des frühen 20. Jahrhunderts scheint für Regisseure und Schauspieler, Produktionsfirmen, Rundfunkanstalten sowie deren Verwertungsgesellschaften in den letzten Jahren besonders attraktiv gewesen zu sein. Ein weiteres Großprojekt legt nun Klaus Buhlert mit Franz Kafkas Der Process auf 17 Tonträgern vor. Während Zeitblom und Wittmann ein knappes Exposé ausfalten und mit Klängen und Fragen der Gegenwart neuinszenieren, will Buhlert das durchaus angejahrte Material des Process (das nie in der allgemein bekannten, von Max Brod editierten Variante zur Veröffentlichung geplant war) erstmals umfassend hörbar werden lassen – in all seinen werkgenetischen Brüchen. Beim ersten Hören scheint das zehnstündige, offen rekombinierbare Hörstück (Sprecher u.a. Samuel Finzi, Rufus Beck, Manfred Zapatka, Jeanette Spassova, Corinna Harfouch) vor allem ein literarisch-papierenes Knarzen von Stimmen zu präsentieren, und vermeidet Einfühlung in den Text. Sanfte Flächen, ein Knistern, umspielt erst hintergründig, unmerklich, dann immer deutlicher, die Hauptsprecherstimme; wie aus dem Kontrollraum spricht der Regisseur verworfene Ausdrücke und Sätze (in Anlehnung an Mauricio Kagels Der Aufnahmezustand von 1970), silbenweise wechseln Stereokanäle, statisches Knistern, Klicken und Klirren, fast tonlos-hochtönendes Saitenzupfen, trockener Studioklang. Weder theaterhaft noch im Hörbuchklischee typischer Überartikulation oder literarischem Lesungsgestus erstarrend liegt dieser Version von Kafkas Process eine feine Dramaturgie zugrunde: sie zwingt, nur punktuell gerahmt durch Klangereignisse, die Zuhörer/innen in eine einsame Komplizenschaft mit den Sprechenden. Der Anspruch, eine Audioedition vorzulegen – avanciertestes Vorhaben im Medium Hörbuch –, die an die progressive Editionsphilologie des Verlages Stroemfeld/Roter Stern anknüpft, bleibt durchgängig spürbar. Die Inszenierung erzeugt eine offene Hörhaltung – nicht obwohl, sondern indem editorische Unebenheiten beibehalten werden, die eine dynamische Klangbewegung durch die vollständige Reduktion der erfahrenen Sprecher/innen erzeugt. Die auditive Inszenierung macht die Zeitlichkeit des Schreibprozesses hörbar, die beim Lesen einer Buchseite nur als räumlich geschlossenes Artefakt erscheint.

Im Jahr 2009 erschien fast als Gegenprogramm hierzu ein auditiv inszenierter Text Dietmar Daths, der – bis dahin unveröffentlicht – eine Art Gründungsschrift seines Romans Die Abschaffung der Arten darlegt. Das so genannte Musikbuch Im Erwachten Garten erschien als vierteiliges Stück der Karlsruher Band Kammerflimmer Kollektief im Berliner Verbrecher Verlag: der Autor liest darin (durchaus hörbar im Aufnahmeraum) seinen eigenen Text. Diese vom genretypischen Hörspiel abweichende Inszenierung soll aktuell nun übertrumpft werden – wiederum in Form eines Großprojektes Die Abschaffung der Arten in 12 Teilen (also einer vollständige Audioinszenierung) und mit einer Klanggestaltung durch Jan Werner und Andi Toma vom Elektronik-Duo Mouse on Mars: eine ebenso schlüssige Librettisten/Komponisten-Paarung wie Daths Zusammenarbeit mit Kammerflimmern. Doch obwohl die Klangästhetik der Tracks von Mouse on Mars üblicherweise kongenial der Poetik Daths zu entsprechen scheint (etwa in den Stücken Distroia, Actionist Respoke oder Mycologics), wirkt ihre Verhörspielung doch vergleichsweise traditionell und angestrengt. Mühsam werden Narrative und Redeanteile aus Daths Text extrahiert, diese werden brav mit Raumatmo und Hörspielmusik bebildert, was der Poetik des Textes deutlich weniger gerecht wird als die üblichen flirrend-knotigen und synkopischen Formationen in der Musik von Mouse on Mars. Der Zugang zum Text wird eher verstellt und verwischt. Demgegenüber finden Im erwachten Garten Musik und Sprache zueinander in einer hörbar gewordenen politischen und sozialen Utopie, die Daths Fiktion umfasst: eine Ursuppe der Insekten und Gewächse, eine Lust an Verschlingungen und Vermischungen zwischen Kreaturen und Artefakten. Heike Aumüller am Harmonium, Thomas Weber an Gitarre und Elektronik, Christoph Brunner am Schlagwerk vermeiden eine mögliche Naturromantik, sie suchen und finden Klänge und Genres in tastender Performance. Weniger um Vermenschelung des Kreatürlichen (die Dath ablehnt) geht es ihnen als um eine postkoloniale Studie der Spezies und der Dinge: aus dem Gender, dem sozialen Geschlecht, unserer Welt werden die Gente, die Gattungen und Familien jener erzählten Welt. »Denn bei der regelrechten Liebe machen nicht die Regeln die Liebe – sondern die Liebe macht die Regeln.« Erfüllung einer Utopie, die Kriwet sich kaum vorstellen konnte? Womöglich ein Weg aus der klaustrophobischen Depression des Lebensprozesses nach Kafka?

  • Klaus Buhlert: „Der Process“ von Franz Kafka, Produktion: Bayrischer Rundfunk, 2011
  • Dietmar Dath und Kammerflimmer Kollektief: „Im erwachten Garten“, Verbrecher Verlag, Implex Verlag und Staubgold, 2011
  • Wittmann/ zeitblom: „BeatTheater“, Produktion: Deutschlandradio Kultur, 2011