Ubiquitäres Video

(aus: Ubiquitäres Video. Über Happy von Pharrell Williams, Like A Rolling Stone von Bob Dylan und G.U.Y. von Lady Gaga, in: TEXTE ZUR KUNST 24 (2014), H. 94: Berlin Update, S. 186-192)

Die Räume sind hell. Die Personen gehen vereinzelt, in sich ruhend, mit sich selbst beschäftigt. Kaum etwas stört ihren Weg, ihren Gesang, die Tanzgesten im kalifornischen Licht. Genau jetzt setzt dieses Musikvideo ein: zur aktuellen Uhrzeit der Zeitzone, in der mein Browser sich befindet. Es ist der späte Vormittag, 11 Uhr 44 und das 177. von 360 Einzelstücken beginnt. Als „The world’s first 24 hour music video“ wurde Happy von We Are From LA und Yoann Lemoine (alias Woodkid) für Pharrell Williams im November 2013 beworben. Während der Song seit seinem Erscheinen fix durch Formatradios und Sportberichterstattung abgenutzt wurde, setzt das 1440 Minuten lange Onlinemusikvideo (in voller Länge nur auf 24hoursofhappy.com), einen Schnitt in der noch sehr kurzen Geschichte des Musikvideos insgesamt. Das Video zeigt – soweit noch unspektakulär – alltägliche Situationen, in denen über dreihundert Menschen non-chalant mitsingen oder ekstatisch mittanzen: zwischen exzessivem Vogueing und Posieren einerseits (etwa um 11:44am, 01:21pm, 4:44pm, 5:52pm) bis zu unterkühltem, diskret mitwippenden Schlendern (so der Late Night-Moderator Jimmy Kimmel um 11:48am oder andere um 3:04am, 7:20am, 9:28am, 10:28am). Ästhetikgeschichtlich sind diejenigen Plansequenzen der Musikvideogeschichte das Vorbild, in denen eine Star-Persona unbeeindruckt von Geschehnissen, Passanten und Hindernissen auf dem Bürgersteig auf das Objektiv zuläuft oder tanzend sich mitunter auch jenseits der Naturgesetze einen öffentlichen Raum aneignet: mit Unfinished Sympathy (1991, Massive Attack/Baillie Walsh) einsetzend, über Bittersweet Symphony (1997, The Verve/Walter A. Stern) bis hin zu Weapon of Choice (2001, Fatboy Slim/Spike Jonze). Der entscheidende Unterschied im Fall von Happy ist das (nahezu) vollständige Fehlen der Star-Persona respektive das Einsetzen (nahezu) beliebiger Average Joes and Janes in Position des unbeeindruckt spazierenden Protagonisten. Vordergründig führt dieses Video den genredefinierenden und stets paradoxen Überbietungshabitus fort: je erratischer, erstaunlicher und jenseits der vermeintlichen Genrekonventionen ein Musikvideo sich zeigt – um so eher kann es für das Genre als paradigmatisch und anregend gelten. Zuständige Jurys, Programmacher und Netz-Aggregatoren beeindruckt genau dies.

Happy erreicht dabei ein neues Extrem, das bislang unerreichbar schien: eine Spieldauer nicht nur länger als der generische Popsong oder ein ausgedehnter Dancemix, sondern deutlich länger noch als jede TV-Serienepisode oder jeder 3D-Blockbuster dieses Sommers. Die Folge: Auf Seiten des Betrachters muss eine Sehposition der Endlosschleife eingenommen werden – durchaus vergleichbar mit der Haltung im Rahmen einer Videoinstallation, vor einem Überwachungsmonitor. Der Bild- und Erfahrungsraum, der sich durch dieses Video öffnet, lässt die Rahmung der Betrachtungssituation allerdings in diesem Fall zunehmend entschwinden: der übliche Effekt bei überlangen Werken, die die physische Ausdauer eines Publikums überfordern. Das beworbene Musikstück gerät zur Hintergrundmusik, zum Soundtrack, dessen Lautstärke wir gerne herunterregeln. Wir sehen ein Video, das das Symptom der ubiquituos music– der Musik, die an kommodifizierten Orten uns umhüllt, bespielt, sediert oder aufputscht – wiederum selbst audiovisuell erfahrbar macht: ein ubiquitäres Video, das ungebunden von Fernsehkanälen und Sendezeiten sich Betrachterinnen und Betrachtern allgegenwärtig aufdrängt. Die Musik spielt hier überall, wir tanzen dazu überall, ungeachtet unserer Berufstätigkeit oder öffentlicher Beobachtung. Wir begleiten Menschen bei ihrer Bus- (ab 5:08pm), Motorrad- (ab 12:40am) oder Autofahrt (ab 4:16am), besuchen einen Supermarkt (ab 7:56pm) und ein Schulgebäude bei Nacht (ab 9:56pm). Die Protagonisten sind bei der Arbeit zu sehen, aus der sie summend sich hinausbewegen wie zur üblichen Radiomusik, die das Lagerleben der Erwerbsarbeit aufhübscht (etwa bei 11:56am, 5:24pm). Allgegenwärtig erscheinen Video und Lied in der endlosen Wiederholung zeittypischer Tanzmanierismen, Hiphopmoves, des exaltierten Vogueing, der nicht nur trainierten Alltagskörper: mit gewöhnlich ausgeleierten Frisuren, ausgebleichten Shorts und zu ausgebeulten Jeans-Marken, mit Speckröllchen, Narben und übertrainierten Muskeln am inszenatorisch falschen Fleck. Obwohl all dies mit professionellen Tänzern inszeniert ist und Betrachter dies wissen (zumindest ahnen), öffnet sich ein großes Tableau der Diversität in der Einheit: der Geschlechterrollen, der Subkulturen, der Kleidungsstile und der ethnischen Gruppen – vereint in diesem Song, seinem kaum abzuweisenden Schlendern, seiner beschwichtigenden Gelassenheit: Diversität um einen frappierend zurückgenommenen, extrem sendekonform-flachen und dadurch erst werbetauglichen Song. Schalten wir um.

Es ist kein neuer Song, der zuletzt gleichfalls mit einer beeindruckenden Videoarbeit angepriesen wurde: Like A Rolling Stone erschien im Juli 1965 am Ende einer turbulenten Veröffentlichungsgeschichte und machte Bob Dylan zur medial eminenten Persona einer Fusion aus Gegen- und Popkultur. Ein Halbjahrhundert später wird auch dieses Stück zum Träger einer Werbemaßnahme – doch während Happy für einen Animationsfilm wirbt (und gegebenenfalls für Sportveranstaltungen, Fernsehsender, you name it), wirbt der alte Song für die jüngste Verpackungsform von Dylans Werk, als Boxset. Zwar entstanden hier nur 16 Einzelvideos, diese jedoch inszenatorisch und bildsprachlich deutlich distinkter: die 16 Clips von Vania Heymann entsprechen 16 fiktiven Fernsehkanälen samt Bildästhetik, grafischen Kennzeichen und Protagonisten – vom seriösen Nachrichtenkanal BCC, über den Wirtschaftsnachrichtenkanal, verschiedene Reality TV-Sender und -Sendungen, Koch- und Wohnungseinrichtungsshows, auch ein Hiphop- und ein Oldie-Musikkanal sind dabei (letzterer mit einer Originalaufnahme von Bob Dylan). Der Betrachter kann zwischen diesen Videos wie gewohnt umschalten und die Menschen im Bild verlesen, deklamieren, klagen, schimpfen, singen, rappen oder moderieren jeweils lippensynchron zu den Textzeilen von Like A Rolling Stone. Wie Happy ist auch dieses riesige Werbevideo nur im Netz und nur durch eine entsprechend programmierte Steuerung zu betrachten (per Auf- und Abwärtstaste wie auf einer Fernbedienung); und ebenso wird es wohl auch nur selten erschöpfend betrachtet, lediglich auszugsweise, Hineinklicken, Auswählen, Springen und Schalten. Etwas altväterlich mag diese Fernsehkanalmetapher anmuten, der kreisförmig eingeblendete 24h-Tachometer von Happy ist da zeittypischer, die resultierenden Seherfahrungen ähneln einander.

Denn bei Happy betont die unaufhörliche Wiederholung der Tanz- und Klangbewegungen eben nicht die einzelnen tanzenden Personen, sondern lässt diese seltsam verschwinden. Der Hintergrund der Straßen rückt nach vorne: Systemarchitektur und Bordsteine, Parkplätze, Sicherheitszäune und Highwayunterführungen. Die Bauten amerikanischer Gegenwart werden zum Hauptdarsteller: vom Schulbusparkplatz über die Kinderspielautomatenhalle bis zum Spindflur der Schule, viele staubige Straßen – ein Effekt auch dies der langen Dauer, der ungewohnten Ausdauer der Einstellungen. Dabei sind es die Übergänge zwischen den einzelnen Gesangs- und Tanzdarbietungen, denen eine besondere Bedeutung zukommt; wenn der tändelnde Ausklang des Stückes in 7 Sekunden in seinen straffen Einsatz überführt werden soll – und die klanglichen Formanten für einen kurzen Moment der Haltlosigkeit einander technisch angeähnelt werden. Kurze Jingle-Videos von spukhafter Unsicherheit entstehen – leere Straßenpflaster, Feuertreppen, Hintereingänge, lose schaukelnder Individualverkehr –, wenn die verhallenden, letzten Töne aus Williams’ Kopfstimme angestrengt und digital gekörnt in wenigen Sekunden herabgedrückt werden in die Tiefe der ersten, synkopiert geloopten Töne der Rhythmusgruppe vom Anfang. Die ganze Kraftanstrengung, auch die Materialschlacht, das Digitalartefakt dieses Endlosvideos für einen 3:53-Song wird genau hier erkennbar. Die Star-Persona aber, Pharrell Williams, erscheint nur als Zeitzeichen, ganze 24 mal, zur vollen Stunde. Er ist der Vogel dieser audiovisuellen Kuckucksuhr. Die 16-fache Wiederholung und Überlagerung des Dylan-Songs öffnet nun zwar ebenfalls den Bild- und Erfahrungsraum. Die Star-Persona Dylan hatte sich jedoch ohnehin stets gebrochen, abbildungsskeptisch und oft nahezu unsichtbar gezeigt: sie kann kaum mehr zum Verschwinden gebracht werden – im Gegenteil. Dylans Persona wird nur noch erhöht dadurch, musealisiert und ins endgültig Zeitlose, Ahistorische überführt. Während das Lied als ewiger und Soundtrack bewegter Zeiten und Subjekte erscheint, macht die Fernsehästhetik anno 2014 ihn zur Filmmusik unserer Gegenwart. Das alte Lied begleitet uns wieder. Die in beiden Videos zu beobachtenden Annäherungen von Protagonisten, Darstellungs- und Distributionsformen der Pop-Musik (Diederichsen) an jene der der bildenden Künste (und umgekehrt) ist hier mit Sicherheit am unscheinbarsten, da durch die Persona Dylan seit Jahrzehnten legitimiert.

Künstler wie Candice Breitz, Björn Melhus oder Reynold Reynolds machten die videokünstlerischen Ausdrucksformen und Performances des Pop in den letzten Jahren zu ihrem Gegenstand und überholten die Ästhetik des Musikvideos oft von rechts; das genrekonforme Musikwerbevideo dagegen schien in der Bedeutungslosigkeit zu verschwinden nach dem nahezu lautlosen Untergang  der Sendeplätze auf MTV. Auf den vielen kleinen neuen Bühnen (neben You Tube etwa Dailymotion, Vevo, Vimeo, Putpat oder Tape.tv) rückte das Genre wieder in die zweite Reihe, eben in den Status des lakonisch Ubiquitären: stets präsent als allerorten uns umgebende, eilfertige Werbefilmform (wie die frühen Soundies, die überdrehten Nummernrevuen in Musikfilmen oder fürs Fernsehen inszenierte Popsongs) – doch genau darum nur selten herausgehoben. Happy als auch Like A Rolling Stone sind hierfür die deutlichsten Symptome in ihrem Bemühen, das genuin Extraordinäre und Megalomanische des Musikvideos noch ein weiteres Mal zu erreichen: durch den entschiedenen Ausbruch aus dem Fernsehformat in eine permanente Verfügbarkeit, eine Umarmung des Ubiquitären. Sie sind jedoch beide kaum mehr zu vergleichen mit den stolz-hochgezüchtete Videofilm-Arabesken der Genreklassiker wie Bohemian Rhapsody (1975, Queen/Bruce Gowers), Thriller (1983, Michael Jackson/John Landis) oder All Is Full Of Love (1999, Björk/Chris Cunningham).

Der jüngste Versuch, solch eine manierierte Arabeske zu schaffen und das Genre nicht nur im Format, sondern auch in seinen Potenzialen des Epischen und der Postproduktion weiter auszureizen, mutet zunächst tragisch an: G.U.Y. von Lady Gaga (die auch als Regisseurin fungiert) müht sich, eine möglichst unerträglich selbstwiderspruchsvolle Reihe der Szenarien, der musikalischen Agogik und der Rollenzuweisungen der Protagonistin im Hearst Castle vorzustellen. Ähnlich den extremsten Auswüchsen des Artrock in den 1970ern gelingt ihr insofern tatsächlich ein Werk des peinigenden Artpop, das allegorische Ästhetiken möglichst krude panaschiert und oktroyiert: auf der Flucht vor der Leere, der Hohlheit abgegriffener gestischer, musikalischer und bildlicher Phrasen des Genres werden immer gesuchtere Formen in den fast 12 Minuten ineinander übergeführt. My Artpop could mean anything. Alle 32 Takte wechselt die Musik ihre Dynamik von klagender Minimalelektronik, zur euphorischen Discopolka, über Spacerockhymne, Clubhit zu Soulballade und Stadionelectropop. Eine Genrerundreise in einem Stück, das gleich alle Mainstream-Popgenres der Saison (und einige Tracks ihres aktuellen Albums) in einem bastardisiert; nach der Klang- wird später auch die Bildsprache maniriert aufgestapelt und Centerfold-Bademoden-Erotik mit LEGO-Animationen, antikisierender Saunaclub-Ästhetik, Retro-Science Fiction, Wellness-Tantra, Agententhriller und Transgender-Capriccios verquickt. We could, we could belong together. Jesus Christus, Michael Jackson und Mahatma Gandhi dienen als Blut- und Genomspender ihrer eigenen Armada aus der Retorte: priesterlich-scharf gekleidete junge Herren (die Initialen LG ihrer Herrin um den Hals) schwärmen aus als Agenten und Missionare in die Welt – tatsächlich ominöse kleinen Monstren und Monstranzen. Selbstvergottung und Selbstverlust: „Der Künstler will Popstar werden, und der Popstar will Künstler werden. Das hat natürlich manchmal auch etwas erhebend Komisches an sich.“ Music – not the bling! Die schamlose Komik aber frappiert hier, maßlose Selbstüberbietung wird ganz genredefinierend vorgezeigt und die selbstberauschende Lust am eigenen, ikonisch überdramatisierten Verschwinden in audiovisuellen Produktionsformen der allernächsten Gegenwart wird zur Mini-Oper, die das Musikvideo immer wieder einmal zu sein behauptete. Ein bezwingender, ein lustvoll dekadenter Abgesang auf Musikvideo und Pop-Musik. Oder Animation zu einem anderen Anfang?