Stadtklang 2015 – 2065 – 2515

(Ausführliche Fassung eines Gespräches mit den Kollegen des BMBF-Projektes Zukunftsstadt zum Stadtklang – eine Initiative im Wissenschaftsjahr 2015; eine Kurzfassung des Gesprächs in Form einer Pressemitteilung findet sich auf den Seiten der Zukunftsstadt)

Was erforschen Sie in Ihrem Projekt „Listening in the 21st Century“?

Erinnern Sie sich, was und wie Sie heute schon alles gehört haben? Vermutlich fanden sich nur wenige Momente, in denen Sie einer einzigen, isolierten Klangquelle (z.B. Lautsprecher- oder Livemusik, Gespräch, Vortrag, Film, Warnsignale, Straßenverkehr), sitzend und konzentriert über einen längeren Zeitraum exklusiv gelauscht haben. Dennoch basieren nahezu alle Forschungen zum Hören der letzten 150 Jahre auf genau dieser, ich möchte sagen: Illusion von Exklusivität, Statik und Konzentration. Tatsächlich hören Menschen – und das nicht erst seit Beginn dieses Jahrhunderts – fast ausschließlich in Bewegung, in gedanklichem Abschweifen, in gemischten und überwiegend verrauschten, verzerrten, gewissermaßen schlecht ausgesteuerten Situationen. Das gilt es zu erforschen. Mit Kollegen und jungen Forschern, Künstlerinnen und Radiomachern, mit Technik- und Medienunternehmen bereite ich an der Universität Kopenhagen derzeit ein Forschungsprojekt genau hierzu vor: Welche vielfältigen Hörweisen finden sich tatsächlich in der Gegenwart?

Wie klingt die Vergangenheit?

Den Klang einer bestimmten historischen Periode und einer bestimmten Kultur zu rekonstruieren verlangt ein möglichst genaues Verständnis der gängigen Lebensabläufe sowie der Alltagsdinge, mit denen die Menschen sich umgaben. Es braucht also kriminalistisch-archäologische Erkenntnisse über diese Zeit, um die sich die Geschichtswissenschaft bemüht. Die vorherrschenden Materialien (z.B. Holz statt Plaste, Bambus statt Aluminium, Bronze statt Stahl) in Verbindung mit den gängigsten Handlungen der Menschen und ihrer Gerätschaften (z.B. Stahlreifen auf Kopfsteinpflaster statt Gummireifen auf Asphaltfahrbahnen, dauerhaft offene Feuerstellen statt elektrische Kochfelder, öffentlich besuchte Brunnen und Wasserquellen statt private Wasserzulieferung), ihrer Gebäude, ihrer Möbel und Kleidungen bringen dann die charakteristischen Klänge hervor. Der Klang der Vergangenheit ist also weniger pauschal zu benennen als anhand konkreter Lebenssituationen zu beschreiben. Es versteht sich von selbst, dass diese Lebenssituationen stark unterschieden sind nach gesellschaftlichen Schichten, Geschlechterrollen, Berufstätigkeit und Altersstufen, nach körperlichen Fertigkeiten und Aussehen. Die Klanggeschichte fußt damit auch auf typischen Klangpersönlichkeiten, den sogenannten Sonic Personae einer Epoche: diese zu erforschen ist das Anliegen der Klanganthropologie, die ich vertrete.

Wie hat sich der Stadtklang in den letzten Jahrhunderten verändert? Inwiefern klingen Städte anders, seit mit Beginn der Industrialisierung Ende des 19. Jahrhunderts die ersten Fabriken gebaut wurden?

Die Industrialisierung, die Elektrifizierung und insbesondere die Automobilisierung des täglichen Lebens hat die vorherrschenden Klänge entscheidend umgewälzt. Die Folgen für das Stadtleben werden aber erst langsam erforschbar und abschätzbar, kürzlich etwa bei einer Tagung am Exzellenzcluster der Humboldt-Universität zu Berlin unter dem Titel Signalstadt. Waren brennende Gaslaternen, Dampfmaschinen und strombetriebene Fabriken zunächst noch bejubelte Zeichen eines Fortschritts, der Wohlstand verhieß, wandelte sich dies: Lärm, Störung und Behinderung durch die neuen Erfindungen waren nicht mehr seltene Kuriositäten, sondern ständige Begleiter. Die autogerechte Stadt, der Supermarkt, Fertiggerichte in Dosen und tiefgekühlt, die ehedem als Statussymbole einer besseren Zukunft dienten, haben diese Aura längst eingebüßt. Der breitbandige Klang von Verbrennungsmotoren zerschneidet Stadtteile und macht jede sprachliche Artikulation in seiner Nähe weitgehend unmöglich. Alle hörbaren Aktivitäten jenseits davon werden akustisch maskiert und zumindest phasenweise ausgelöscht. Die begehrten Zukunftsklänge des 19. oder mittleren 20. Jahrhunderts sinken somit herab zu bemitleideten Störgeräuschen einer alten Zeit, im besten Fall werden sie zum Freizeitvergnügen musealisiert, als schrullige Antiquität: Dampfmaschinen, Oldtimer, Lochkartenautomaten, Transistorradios, Diskettenlaufwerke.

Wie werden Städte in 50 Jahren klingen? Und wie in 500 Jahren?

Bis zum Jahr 2065 kann sich einiges grundlegend verändert haben – nicht zuletzt die funktionalen Klänge, die wir am Sound Studies Lab in den letzten Jahren untersucht haben. Der Staat Kalifornien prüft gegenwärtig, ob Fahrzeuge, die mit fossilen Brennstoffen betrieben werden, schon im Jahr 2030 ganz verboten werden. Bis 2065 kann dies aufgrund drastisch verteuerter Ölförderkosten auch global der Fall sein. Aktuelle Debatten über den Klang von Elektroautos wären dann hinfällig, wenn auf den Straßen nur noch Fahrräder oder Trams neben Elektromotoren zu hören wären. Der lauteste Klang wäre dann genau dieses Elektrosurren; Polizei-, Notarzt- und Feuerwehrsirenen könnten wieder mit deutlich geringeren Dezibelzahlen die nötige Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Wenn Privat-, Dienstleistungs-, Überwachungs-, Nachrichten- und Lieferdrohnen aber überhandnehmen und ihr Betrieb weniger reguliert wird als nötig, hören wir dann auch über uns, selbst vor Fenstern im 27. Stockwerk, zur Tages und Nachtzeit kleine Elektromotoren schnarren? Wie klingen die Dienstrobotor, die uns im Haushalt helfen, die Supermärkte befüllen, Straßen reinigen, den Verkehr regeln, Sexualdienstleistungen offerieren und auf dem Bürgeramt für Geringverdienende ihren Dienst tun? Welche Sprachen, sozialen Praktiken und politischen Widerstandsformen werden viele Millionen Flüchtlinge in die Städte und Landstriche der Nordhalbkugel gebracht haben, die aus Regionen der Südhalbkugel flohen? Aus Regionen, die dank postindustriellen Klimawandels überflutetet wurden, von Epidemien, Übervölkerung, Bürgerkriegen sowie Militär- oder Religionsdiktaturen heimgesucht wurden? Große Wanderungen sind historisch stets konflikthaft und reformierend in einem. Andere musikalische Genres, neue Dialekte, auch Praktiken des Zusammenlebens werden die europäischen Kulturen durchziehen. Aus Sicht eines Forschers aus Salvador de Bahia in Brasilien ist Berlin gegenwärtig eine vergleichsweise stille Stadt: neue Soundsystems, neue Formen des Feierns und des städtischen Verkehrs werden diese Stadt womöglich stärker verändern als das Verschwinden der Benzinmotoren. Wie werden die Wohngebiete und Regierungszentren der Nordhalbkugel samt Todesstreifen und Selbstschußanlagen zu Festungen ausgebaut? Eine Welt aus hochvernetzten Gated Communities einerseits und andererseits verloren gegebenen Wastelands ohne jede rechts- und sozialstaatliche Fürsorge?

Kaum vorstellbar dagegen ist das Leben im Jahr 2515. Historische Veränderungen seit 1515 lassen vermuten, dass wir von heute aus die Regierungsformen, die Formen täglicher Ernährung, Kommunikationswege oder maßgebliche Formen der Unterhaltung kaum mehr verstehen könnten. Vermutlich haben sich bis dahin global ganz andere politische Zentren gebildet, vielleicht neue Statenbünde; vielleicht ordnen ganz andere Formen der Kommunikation, der Nahrungsaufnahme und der Unterhaltung das tägliche Leben? Welche Klänge aber beherrschen das tägliche Leben dann? Welche Formen der Energie herrschen vor? Werden sich die elektronischen Medien bis in unsere Körper hinein ausgebreitet haben? Wurden sie ersetzt durch optische Rechnersysteme? Entstanden Kommunikationsformen auf chemischer Basis wie sie etwa Dietmar Dath in Die Abschaffung der Arten (2008) imaginiert? Werden (wie ebenfalls bei Dath) andere Lebensformen, Pflanzen, Tiere, Pilze, extraterrestrische Kreaturen eine Personalität ausgebildet haben und das öffentliche Leben maßgeblich mitbestimmen? Oder haben Naturkatastrophen, haben globale Technikhavarien, Epidemien, neue Kriege und Terrorregime für Verarmung und Verelendung selbst der Wohlstandsnationen des Nordens gesorgt? Ist der partielle Wohlstand ubiquitären Netzzuganges, hinreichend ungehinderten Reisens, von warmen Mahlzeiten und hinreichend konsumierbarer Atemluft, Trinkwasser, Körperberührungen womöglich den Lebensformen des 26. Jahrhunderts nur eine utopisch anmutende Märchenerzählung aus fernen Zeiten? So fern wie uns Minnesang und Ablasshandel?

Welcher ist Ihr Lieblingsklang bzw. welche Eigenschaften muss ein Klang haben, um zu Ihrem Lieblingsklang zu werden?

Es fällt mir tatsächlich schwer, einen einzelnen Lieblingsklang zu benennen. Mich erfreuen vor allem überraschende Klangdeformationen oder -fügungen, Hörweisen oder auch -pathologien, -verzerrungen, -amalgame. Nicht die patentgerecht-virtuos produzierte Stereo- oder Raumklangdarbietung, sondern der mehrfach gebrochene, abgedämpfte, befremdlich deformierte Klang eines mir gut bekannten Stückes, das um mehrere Ecken durch die Flure einer Wohnung schallt; das unvermutete Wiedererkennen des Samples aus einem eher verfemten Genre in aktuellen Stücken; Effekte der ungeahnten Verstärkung oder des Abdämpfens von Sprechsprache in Gebäuden oder auf öffentlichen Plätzen, die ich zum ersten Mal betrete. Das sind Momente und Situationen, an die ich mich noch lange erinnere.