Die Vielfalt der Hörkulturen

Erst wenn ein Mensch sich in einem vollkommen stillen Raum aufhält, ohne Schall, begreift er, wie sehr unsere Körper ständig Geräuschen, Vibrationen und Erschütterungen ausgesetzt sind. Menschen, die in der Wohnung über uns hin und her gehen und die Decke zum Vibrieren bringen, Lastkraftwagen, die die Straße erschüttern, oder Trambahnen, die stählern quietschend in Kurven fahren, das Knarzen der Möbel und das Rascheln der Kleider anderer: All dies vermissen wir plötzlich körperlich, wenn wir isoliert in einem schalldichten Raum sitzen. Unser Körper nimmt sogar unhörbare Frequenzen hörend wahr. Die Haut, unsere inneren Organe, unser Nervensystem um Magen und Darm, unsere Muskeln und unser Kehlkopf reagieren auf akustische Signale. Wir hören mit dem gesamten Körper. In schalldichten Räumen meinen wir körperlich zu spüren, dass wir allein und verloren sind, außerhalb von Zeit und Raum. Solche Räume sind beklemmend, die meisten Menschen ertragen sie nur wenige Sekunden oder Minuten lang. Sie fühlen sich wie lebendig begraben. Nicht allein unsere Ohren hören also – auch wenn Medizin, Akustik und Kunst sich seit dem 19. Jahrhundert auf das Ohr als hörendes Organ konzentriert haben. Die vielfältigen körperlichen Hörsituationen entstehen aus kulturellen und historischen Entwicklungen. Sie haben unterschiedliche Formen des Hörens hervorgebracht.

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Jede Bewegung bringt Materialien in Schwingung, jede Tätigkeit ist von Klängen begleitet und lässt eigene Hörkulturen entstehen: Ein gemeinsamer Arbeitsrhythmus bringt die Geräusche der Fließbandarbeit hervor und umgekehrt; das geschulte Ohr des Arztes übersetzt die Klänge, die es durch das Stethoskop aufnimmt; wir richten unsere Handlungen an Begleitgeräuschen aus, wenn uns etwa das Piepen der Mikrowelle mitteilt, dass die sechzig Sekunden abgelaufen sind. Diese Klänge sind die technische oder maschinelle Fortsetzung unserer Handlungen. Das Aufwärmen der Mahlzeit und der piepende Signalton der Mikrowelle sind die Fortsetzung unserer eigenen Zubereitung des Essens.

Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein wurden bestimmte Klänge anders wahrgenommen als heute. Der Volksempfänger bannte noch in den 1940er-Jahren mit seinem blechernen Klang die Menschen vor die Geräte. Man musste auf das zentral reglementierte Programm zurückgreifen, um Informationen zu bekommen. Als Phonographen zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch neu waren, versammelten sich die Menschen zum Musikhören in eigens dafür eingerichteten Musiksälen, in denen man über Hörschläuche gemeinsam der Musik lauschen konnte. Heute tragen wir Kopfhörer und personalisieren unsere Playlists auf tragbaren Abspielgeräten, und wir suchen uns unsere eigenen Kanäle der Informationsbeschaffung.

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Die Demonstrationen und Ausschreitungen der letzten Monate und Jahre, in London, Tunis, Kairo, in Hamburg, Montreal und Kiew, hatten etwas gemeinsam: Ungeachtet der politischen und ideologischen Unterschiede zwischen diesen Protesten stellten sie Anwesenheit her durch Lärm, durch Skandieren, Singen, Reden, Wiederholen oder auch durch beklemmendes Schweigen. Es ist eine lange, jahrhundertealte Tradition des Protests, die zu Beginn des 21. Jahrhunderts wieder auflebt: Es handelt sich um Formen, die aus dem Mittelalter und der frühen Neuzeit bekannt sind – lange vor den Hochzeiten unserer großen bürgerlichen Schriftkulturen.

Der Protest ist eine friedliche Form des Geräuschemachens im Vergleich zur Gewaltanwendung durch Klang. Das Militär nutzt im Einsatz gegen feindliche Kräfte Zielschall- und Ohrenbetäubungsapparaturen, die Erbrechen, innere Blutungen und schwere, bleibende Hör- und Sinnesschädigungen hervorrufen. Klang kann hier zur Folter werden. Militärisches Marschieren wiederum lebt von einem monotonen, die Konzentration und Motivation erhaltenden Sound. Auch viele kriminelle und paramilitärische Gruppen peitschen ihre Mitglieder rhythmisch mit Einstimmungshymnen und Gesängen hoch, sie synchronisieren und enthemmen sie zu Gewaltbereitschaft und Sadismus. Das Aufpeitschen durch schiere Lautstärke findet man auch dort, wo Höchstleistungen erwartet werden, in der Arbeitswelt ebenso wie im Sport.

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Die Klänge des täglichen Lebens formen unser Hörverhalten. Unsere Gegenwart ist nicht nur in die fünfzig Hertz des europäischen Stromnetzes eingehüllt, Grundton in g oder gis, je nach Stabilität des Stromsignals; sie wird auch gestaltet durch ständige Begleitgeräusche und klangliche Spuren der Interaktion der Menschen untereinander und mit ihrer Umwelt. Manchen dieser Begleitgeräusche messen wir mehr Aufmerksamkeit bei, anderen weniger. Alle Klänge weisen uns jedoch ständig darauf hin, dass wir in Gesellschaft sind. Geordnet, ungeordnet, ­zusammen, ­allein, ­aufbegehrend oder entspannt.

Der ganze Text online:
Jenseits der Stille(2014)
(aus: Kulturaustausch Zeitschrift für internationale Perspektiven III/2014)