Anthropologie des Hörspiels

Regina Rabolt forscht als Doktorandin am Department für Neuere deutsche Literatur- und Medienwissenschaft des KIT Karlsruhe über „Die Funktion der Musik im Kriminal- und Pop-Hörspiel des öffentlich-rechtlichen Rundfunks seit 2000 – eine interdisziplinäre Untersuchung“. Sie stellte mir die folgenden Fragen.

RABOLT: Das Schreiben über das Hörspiel verläuft anders, als das Schreiben über literarische Texte, denn die anschließenden Darstellungen werden überwiegend aus dem Hören entstehen. Viele Hörspiele müssen zwei, drei Mal gehört werden, bevor es möglich ist, darüber zu schreiben. Doch wer dazu bereit ist zu hören, der wird oft davon überwältigt sein, was im Hörspiel alles möglich ist, welche Schönheit und Vielfalt sich ihm eröffnet.

Ihr Forschungsfeld ist die Anthropologie des Hörens: Wie Menschen hören, was sie gerne hören und was nicht so gerne. In jedem Alltagsmoment des Lebens liegt Ihr Forschungsfeld – das Leben mit den Klängen. Bestimmte Klänge wecken Gefühle in uns, Momente des Genusses, Erinnerungen, Beziehungen aber auch der Abwehr und der Furcht. Eine der spannendsten Fragen der Emotionsforschung ist, warum uns Musik emotional berührt, besteht sie doch nur aus leblosen Frequenzen, die keinen offensichtlichen Zusammenhang mit dem menschlichen Gefühlsleben erkennen lassen. Und doch ist die Musik die Sprache der Gefühle. Musik wird hierbei häufig als universelle Sprache bezeichnet – hat sie aber auch eine universelle Wirkung?

Maximilian Schönherr, CC BY-SA 3.0 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0, via Wikimedia Commons

SCHULZE: Die universelle Wirkung von Musikstücken scheint mir mittlerweile eine der ausdauerndsten, immer noch weit verbreiteten und am wenigsten triftig belegbaren Annahmen über das Hören und unseren Genuss daran. Tatsächlich liesse sich diese Universalität ja nur prüfen anhand der Effekte, die ausserordentlich fremde Genres und musikalische Darbietungen auf Menschen aus weit entfernten Kulturen haben. Das erweist sich aber als wirklich schwierig. Kleinste gemeinsame Nenner lassen sich sicher finden wie bestimmte, grundlegende Rhythmen, simple Gesangsdarbietungen oder ebenso einfache Muster einer Rhythmusgruppe oder eines Ensemblespiels. Doch schon innerhalb der Musikkultur, die wir gerne als die unsrige bezeichnen wollen, scheint es schon schwer zu sein, Musik zu geniessen und als universell zu bezeichnen, die nur wenige Jahrhunderte oder gar Jahrzehnte alt ist: können Personen des frühen 21. Jahrhunderts komponierte Musik aus dem Europa des frühen 20., des 17., des 10. oder des 3. Jahrhunderts tatsächlich geniessen oder verstehen? Die Musikpädagogik und auch Musikgeschichtsschreibung zeigt: ja, es lässt sich ein Wissen wohl aneignen über die Musik jener Jahrhunderte, das dann einen Genuss uns auch heute erlaubt. Doch diese Notwendigkeit des Unterrichts, einer beherzten und engagierten Aneignung belegt im Grund nichts anderes als eben die faktische Nicht-Universalität der Musik und ihres Genusses. Meine Freude oder mein Erleben dieser Musik ist nicht universell. Es ist partikular, vielleicht sogar in einer radikalen, womöglich verstörenden Weise. Ich argumentiere darum eher für ein durchweg kultur-, biographie- und situationsabhängiges Verstehen, Geniessen und Erleben von Musik. Auch wenn ich damit dann viele liebgewonnene Binsenweisheiten übers Musikerleben leichthändig aus dem Fenster werfe. Denn die Erkenntnisse, die dieses Zurückscheuen vor einem Universalitätspostulat erst erlaubt, sind viel zu bedeutend und hilfreich zum Musikverstehen.

RABOLT: Zur Bandbreite von Gefühlen gehört als sehr bedeutsame Empfindung die Angst und als Gegenteil die Freude. Aber wie klingen sie? Wie wird Angst als auch Freude durch das Medium Hörspiel vermittelt? Oder konkreter gefragt: Wann und wodurch evozieren die Schallwellen beim Zuhörer Furcht und Schrecken – Glück und Freude?

SCHULZE: Das Hörspiel scheint mir, in seiner doch sehr kurzen Geschichte seit 1924 – einsetzend wohl mit Hans Fleschs “Zauberei auf dem Sender” –, einerseits parasitär und andererseits experimentell zu agieren. Parasitär bringen Hörspiele Angst oder Freude hervor mithilfe von immer wieder erneuerten und gewandelten Anleihen aus Filmmusik, aus Filmsounddesign, aus unterschiedlichen Musikgenres sowie aus Comedy- oder anderen Unterhaltungsformaten. Hörspielmacher, die heute ein Empfinden von Spannung oder Bedrohung in den Hörerinnen hervorbringen wollen, tun dies nicht selten mit musikalischen Motiven oder Soundtracks aktueller oder nur kurz zurückliegender Blockbusterfilme. Experimentell allerdings kann das Hörspiel auch neue Hörsituationen schaffen, indem Materialien miteinander konfrontiert, überlagert, amalgamiert werden und so ganz andere, völlig unbekannte Situationen des Hörens entstehen. Diese ermöglichen den Hörerinnen dann das Erleben eines ganz anderen Affektgeschehens: etwa das Erleben von historischer Kontingenz und ideologischem Selbstzweifel in Heiner Müller und Heiner Goebbels „Wolokolamsker Chaussee I-V“ (1989) oder eine rhythmische, synchrone Exkursion in die Vielfalt von Bühnenauftritten in Ferdinand Kriwets „One Two Two“ (1968).

RABOLT: Welche Klangeigenschaften sind für diese Empfindungen charakteristisch und warum?

SCHULZE: Tatsächlich sind es seltener bestimmte, konkrete Klangeigenschaften, die konstant und immer wieder in den letzten bald 100 Jahren genutzt wurden. Sondern ich beobachte hier eher einen historischen Wandel von bestimmten Referenzrahmen und auditiven Vorbildern. Die Hör- und Medienerfahrungen wandeln sich von Generation zu Generation, erst wenig, dann immer deutlicher und mit ihnen auch die Hörerwartungen, das Klangverständnis und die damit einhergehenden sonischen Affekte. So liesse sich etwa das journalistisch aufgeregt und hyperrealistisch dargebotene Grauen in H.G. Wells „War of the Worlds“ (1938) deutlich unterscheiden vom stillen, fast vereinsamten Grauen in der Ursendung von Günter Eichs „Träume“ (NWDR 1951), das dokumentarisch nüchterne und bedrückend-alltägliche Grauen von „Im Zustand der leeren Depression“ von Rosvita Krausz (SDR 1980) ist ein ganz anderes als das eher technische Grauen, vielstimmig zerspielt und lustvoll zelebriert in Andreas Ammer und FM Einheits „Radio Inferno“ (BR 1993) oder auch in der stark filmisch und grotesk zugespitzt inszenierten, schweizerdeutschen Podcastserie „Grauen“ (SRF 2020-23). Diese fünf Beispiele belegen deutlich, wie die hörmediale Inszenierung von Grauen und Angst etwa tatsächlich eng an ihre historischen Formate, Hörgewohnheiten und nicht zuletzt zeittypische Angsterwartungen und Angstlüste gekoppelt ist.

RABOLT: Wie wird Angst/Freude akustisch transformiert, um überhaupt zum Rezipienten transportiert werden zu können?

SCHULZE: Einer Hörspielproduktion liegt ja üblicherweise ein Manuskript zugrunde. In diesem finden sich dann entweder schon Anhaltspunkte zur klanglichen Gestaltung oder das Manuskript wird sogar im Austausch mit Komponisten, Sound Designerinnen, Musikerinnen entwickelt. So stehen nicht abstrakte Affekte wie Freude oder Angst am Anfangspunkt, sondern konkrete Situationen, Dialoge, Handlungsverläufe des Hörspiels. An diese lehnt sich dann die Klanggestaltung und Komposition an, kontrastiert, betont, intensiviert, überspitzt, ironisiert, karikiert oder verballhornt diese. Die Klanggestaltung übernimmt also eine materiale, performative Interpretationsleistung, die freilich eng mit dem Manuskript und der Handlung verbunden bleibt. Eine isolierte Übersetzung findet in diesem Sinne nicht statt. Dennoch gibt es freilich Manierismen, Klischés und Klangzeichen, die immer wieder Einsatz finden und so auch über viele Jahrzehnte erhalten bleiben, von jüngeren Hörerinnen gelernt. Dräuendes Subbassbrummen gehört hier als Ertrag der Blockbusterästhetik ebenso dazu wie ein kreischendes Ostinato ähnlich des Soundtracks in der Duschmordszene des Films „Psycho“ (1960) von Alfred Hitchcock oder angstvolles Flüstern und zitternde, schwer verständliche Stimmen wie in „The Blair Witch Project“ (1999) von Daniel Myrick and Eduardo Sánchez. Hörerleben ist stets auch historisch und medial grundiert, gelernt und munitioniert.

RABOLT: Welche emotionalisierende Funktionsweise beschreiben die drei Trägerelemente des Hörspiels – Musik, Geräusche und Lautlosigkeit?

SCHULZE: Lautlosigkeit ist sicher das problematischste Trägerelement: es kann nüchtern und simpel scheinen. Doch zwischen den vielen Erscheinungsformen der Lautlosigkeit liegen Welten: Lautlosigkeit kann als digitaler Nichtklang verwirklicht werden, aber auch als peinliches Schweigen unter Akteurinnen einer konkreten Situation, wo wir nur noch Atmo und Atmen, peinliches Erstarren hören; oder wir erleben ein kurzes Innehalten, eine Pause der Musik, nach der dann flugs weiterparliert wird, weitergetanzt und -gejagt. Allein diese drei ausgewählten Erscheinungsformen von Lautlosigkeit stehen allesamt für sehr unterschiedliche Affekte und ihre zugehörigen Situationen. Gleiches gilt für die unterschiedlichsten musikalischen Genres, ihre Darbietungen oder Einspielungen sowie das gezielte, zeichenhafte Setzen einzelner Geräusche und Laute. Die drei von Ihnen erwähnten Trägerelemente als solche können somit in einer großen Vielfalt und sehr unterschiedlich genutzt werden. Wichtig ist hier eher ihr konkreter Einsatz, ihre Inszenierung und ihre historische Einbettung. Die Klangmaterialien an sich, die Klangkategorien an sich gibt es somit im Grunde kaum: es gibt historisch und medial verwirklichte Inszenierungen dieser Materialien.

RABOLT: Warum empfindet der Zuhörer Lust während des Hörens, obwohl oder weil er Angst verspürt?

SCHULZE: Die artifizielle Situation des Konsums eines Hörstücks distanziert die Hörerin von dessen Inhalt. Ein Eintauchen in die Handlung kann ich freilich so intensiv erleben, dass meine Aufmerksamkeit auf die ästhetische Form, die technische Apparatur und meine eigene Hörsituation verschwindet: das grauenvolle Monstrum erschreckt mich; die Vereinsamung und Todesangst bedrückt mich; die verwirrende Waffengewalt versetzt mich in Anspannung. Doch die Höraufführung bleibt eine ästhetische Konstruktion, ein Probehandeln, ein Spiel. Ich kann immer wieder aussteigen, das Audiofile stoppen, meine Kopfhörer absetzen. Dieser Aspekt des Spielens, auch des identifikatorischen Rollenspiels ist hier ebenso stark wie etwa bei der Romanlektüre, dem Spielfilmgenuss, einem First-person shooter oder Open-world game, beim Konsumieren von Pornographie, beim Bungee jumping oder einer Achterbahnfahrt: ich erlebe zwar affektiv direkte Furcht, Angst, Schreien oder Schock, Neugier und Glück, Genuss und Hoffnung, Optimismus und Euphorie. Doch alle diese Erfahrungen sind gerahmt und affektiv relativiert durch meine Nutzungssituation. Ich sterbe nicht, wenn eine Person, mit der ich mich identifiziere, getötet wird. Ich steige nicht aus meinem Berufsleben aus, wenn eine solche Person Milliarden gewinnt oder den Job ihres Lebens angeboten bekommt. Ich verlasse meinen Partner nicht, wenn ich imaginär den Orgasmus einer anderen Person herbeiführe. Dieser Spielcharakter, den der französische Spielanthropologe Roger Caillois in „Les jeux at les hommes“ (1958) als mimicry bezeichnet hat, bleibt erhalten. Dieses Spielen aber ist stets in sich lustvoll, befreiend, erholsam, unterhaltsam. Es ist nicht von Angst geprägt, sondern – im Idealfall – von Selbstgenuss und sozialer Kohäsion, es bindet mich noch stärker an andere Personen, mit denen ich zusammenlebe oder die ich als Freundinnen und Freunde sehr schätze.

RABOLT: Wie hat sich eine Kunstform, die ihre Existenz der Entstehung des Mediums Radio in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts verdankt, in einer Zeit der allgegenwärtigen Popkultur verändert? Sind die bisherigen Formbeschreibungen des Hörspiels noch ausreichend, oder ist es an der Zeit, eine neue Beschreibung für ein umfassendes Korpus von Hörspielen zu definieren?

SCHULZE: Die entscheidenden Veränderungen der letzten Jahrzehnte lassen sich als Extreme an den Rändern beschreiben. Denn das konventionelle, illustrative, stark szenische Hörspiel mit Spannungsbogen, Plotpoints und Figurenentwicklung bleibt hiervon weitgehend unbeeindruckt. Hörbücher und klassisch inszenierte Hörspiele dieser Art gibt es weiterhin und sie verändern sich historisch oft wengier als zu erwarten. Doch an den Rändern der Hörspielkultur tut sich einiges: Einerseits lassen sich hier reportageartige, stark journalistische Formate beobachten in jüngeren Podcasts oder True Crime-Serials. Die Fiktion erscheint mir vollständig durch „wirkliche Ereignisse“ gedeckt und versorgt zu werden – die aber durchweg inszeniert, dramatisiert und szenisch neu aufbereitet werden. Es sind im Grunde allesamt Dokudramen, kleinteilig organisiert, im Serienformat aufbereitet und von journalistisch zuverlässigen Off-Erzählern legitimiert, argumentiert, kontextualisiert.

Andererseits erscheinen auch mehr und mehr Hörspiele, die gleichsam als lange Musikstücke erscheinen wie etwa „Gadji Beri #2016: DADA-Radio-Oper“ (Deutschlandfunk/NDR/SWR/WDR 2016) von Wittmann & Zeitblom. Solche Hörspiele verlassen die drei aristotelischen Einheiten aus Zeit, Raum und Handlung, die ein Drama durch ihre Konsistenz bestimmen, fast durchgängig. Es ist ein radikal postdramatisches Hörspiel, das hier die experimentelle Tradition des „Neuen Hörspiels“ um 1970 weiterführt – allerdings ohne dessen oft durchgängig sozialkritischen und medienskeptischen, aufklärerischen Grundzug. Die musikalischen Medienstücke sind eher inspiriert von Medienkunstprojekten der 1990er Jahre, wie sie etwa von der Redaktion „Hörspiel und Medienkunst“ des Bayerischen Rundfunks vielfach in Auftrag gegeben worden waren. Diese Hörspiele sind Medienspiele, Musikspiele, sogar Bühnenspiele, in die Soundeffekte, Dialoge, rhythmisierte Sprechpassagen, aber auch reportageartige und vollständig fantastische Szenerien eingeklinkt sind. Sie erzählen durch diese Klangmaterialien hindurch, in einer Springprozession, deren postdramatische Lust sich in der Überraschung und anregenden Verwirrung der Hörerinnen und Hörer artikuliert. Mir scheint: in diesem freudvollen Spiel mit Hörphänomenen kommt das Hörspiel ganz zu sich selbst. „Alles ist möglich, alles ist erlaubt. Das gilt auch für das Hörspiel.“ (Helmut Heißenbüttel, 1968)